Video-Meetings sind anders

Wegen der Corona-Krise haben praktisch alle Organisationen ihren Betrieb auf Online umgestellt. Wir erleben eine massive Zunahme an webbasierten Video-Meetings.

Selbstverständlich hat diese Kommunikationsform Nachteile und kann die persönliche Begegnung nicht ersetzen. Nach meiner Beobachtung hat sie aber auch einige Vorteile, die über den Schutz vor Ansteckung und die auch vor Corona schon oft genannten Effizienzgründe hinaus gehen.

Folgende recht angenehme Unterschiede zu Präsenz-Treffen habe ich erlebt:

  1. die Teilnehmenden arbeiten sehr konzentriert. Sie bleiben enger am aktuell anstehenden Thema und fassen sich kürzer;
  2. die Gesprächspartner*innen sind disziplinierter. Sie achten mehr aufeinander, unterbrechen weniger, nehmen mehr Rücksicht;
  3. die Atmosphäre ist informeller, lockerer, offener, oft humorvoll. Hierarchien und Machtspiele spielen eine geringere Rolle

Meine Hypothesen zu den Ursachen:

Wir sind nicht als "ganze Person" präsent, sondern nur sehr eingeschränkt physisch wahrnehmbar. Ebenso nehmen wir selbst unsere Gesprächspartner*innen körperlich reduziert wahr. Sichtbar sind i.d.R. nur Gesicht und/oder der Oberkörper. Kommunikation über Geruch und Tastsinn sind komplett ausgeschaltet. Aspekte wie Gestik, der physische Raum, den jemand einnimmt (durch Körpergröße, -volumen, -haltung), ob man sich "riechen kann", der ganze Habitus, Berührungen und Distanzverhalten spielen eine geringe oder gar keine Rolle.

Das alles schafft emotionale Distanz, wir sind nicht als "ganzer Mensch" involviert, Gefühle, die oft durch unbewusst wahrgenommene Körpersignale ausgelöst werden, spielen eine geringere Rolle. Wir fühlen uns daher entspannter und können auf die Sachinhalte fokussieren.

Zur sachlichen Atmosphäre trägt möglicherweise auch bei, dass der Kampf um situativen Status, um den Rang in der Gruppe, unter den Bedingungen einer Video-Konferenz nicht so einfach ist. Es gibt keine Sitzordnung, die eine Rangordnung markieren könnte, gängige Statussymbole wie Uhren oder der Maßanzug kommen wenig zur Geltung. Der Körpereinsatz ist begrenzt auf den kleinen Bildschirmausschnitt, den das System bietet. Bleiben die Instrumente Stimme und Redeanteil - doch die Lautstärke kann jede*r runterdrehen und Moderator*innen schalten Vielredner auch schon mal auf „stumm“.

Die Technik fördert Konzentration und Achtsamkeit indem sie das Gesicht der sprechenden Person direkt vor unserer Nase präsentiert, was den Eindruck eines Vier-Augen-Gesprächs vermittelt.  Auch das wieder egalitär, unabhängig vom Gruppenstatus. Der / die jeweilige Sprecher*in genießt die volle Aufmerksamkeit aller. Nebengespräche sind zwar möglich (z.B. über einen parallelen Textchat) aber weniger störend als beim Präsenztreffen.

Zur oft entspannten, manchmal sogar heiteren Atmosphäre tragen weitere Aspekte bei:

- wir sind meist zu Hause, im privaten Ambiente. In dieser privat-beruflichen Mischsituation sind wir weniger stark mit der beruflichen Rolle identifiziert. Wir geben uns anders. Oft bekommen wir Einblicke in das Privatleben der anderen Gesprächsteilnehmer*innen und diese in unseres (Hintergrundgeräusche, Menschen, die durch das Bild laufen, Mobiliar, Bücher, Bilder...). So lernt man sich anders kennen als beim Treffen im Konferenzraum. 

- wegen des aktuellen Gebots zur "Sozialen Distanz" freuen wir uns richtig über die Begegnung mit uns bekannten Menschen, die uns sonst selbstverständlich scheint. Von allen Medien kommt die Videokonferenz der realen Begegnung noch am nächsten.

- wir alle durchleben momentan eine äußerst schwierige, anstrengende, unsichere Zeit. Das gemeinsame Schicksal schafft Gemeinsamkeit und eine umfassende Verbundenheit.